1926 entwarf der Architekt Thilo Schoder für das schnell wachsende, thüringische Hermsdorf eine Zeile Siedlungsreihenhäuser mit flachem Dach und stark gegliederter Fassade. Heute ist davon fast nichts mehr zu erkennen.

Viele Gebäude sind wie ungeschriebene Geschichtsbücher. Bei manchen wird es dann auch eine vergessene Geschichte. Ein solches Beispiel ist die „Siedlung“ an der Kleingartenkolonie Am roten Strumpf in Hermsdorf in Thüringen. Durch den Aufschwung der keramischen Industrie in Hermsdorf waren Wohnungen knapp. Es musste schnell gebaut werden. Der im benachbarten Gera ansässige Architekt Thilo Schoder bekam den Auftrag, eine Siedlung zu planen. Zwischen der Gartenkolonie und dem bereits kurz vorher fertiggestellten Neuen Haus sollten auf engem Raum 15 moderne Wohneinheiten entstehen, so der Plan.

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Auf einem alten Foto aus dem Jahre 1927 ist noch sehr schön die kubische Struktur der Häuserzeile im Bauhaus-Look zu erkennen. (Vintage-Foto von 1927, Fotograf unbekannt)

Der Architekt Thilo Schoder, der vor dem 1. Weltkrieg in Weimar studiert hatte, war von den Ideen des Bauhaus begeistert. Er plante keine freistehenden Siedlungshäuschen. Er sah fünf aneinandergebaute Doppelhäuser vor. Die Häuser hatten vorn und hinten einen zweietagigen, vorgebauten Mittelteil mit seitlichen Balkons und ein zurückgesetztes, drittes Geschoß, sowie ein flaches Dach. Die Fassadenstruktur mit dem vorgesetzten Mittelteil ist heute nur noch auf der Rückseite des Gebäudes sichtbar. Dort schlossen sich nach einem tunnelförmigen Durchgang Nebengebäude für Waschkeller, Trockenböden und Lager für Heizmaterial an.

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Rückseitig ist die Klinkerfassade aus der Bauzeit noch vorhanden. Teilweise sind auch noch Elemente der ursprünglichen, kubischen Gebäudestruktur sichtbar. Auch die hinteren Anbauten sind meist noch original, sie dienten als Waschhaus, Trockenboden und Kohlenschuppen.

Die Fassade war in Sichtmauerwerk ausgeführt, die Fenster waren mit einem Blockmauerwerk zu Bändern verbunden. Durch die kompakte Bauweise entstanden nicht nur die vorgegeben 15, sondern 30 kleine Wohneinheiten.

Für die damalige Zeit war das Gebäude hochmodern und die Wohnungen hatten einen guten Standard. 1927 wurde der Bau bezogen. Leider wurde das Haus bautechnisch nie richtig fertiggestellt. Die unverputzt gebliebenen Steine der Fensterbänder korrodierten, das Flachdach wurde undicht, weitere Baumängel traten zutage. Um in den kleinen Wohnungen Platz zu gewinnen, wurden bei einzelnen Balkons die Brüstungen hochgemauert und mit Fenstern versehen.

Nach den Kriegswirren kümmerte sich niemand mehr um die Originalität dieser Architektur. Man setzte 1954 ein Satteldach auf das gesamte Gebäude. Um dem Platzmangel zu begegnen, wurde 1962-67 die Frontfassade „begradigt“ und verputzt und damit der Charakter des Gebäudes völlig verändert.
Heute ist das Haus leergezogen und wartet auf eine wie auch immer geartete Sanierung.

Der Architekt Thilo Schoder (1888-1972) eröffnete 1919 in Gera ein Architekturbüro. Er war von den Ideen des Bauhaus begeistert und errichtete  in den 1920er Jahren zahlreiche Wohn- und Geschäftsbauten im Stil des Neuen Bauens in Ostthüringen und Sachsen.
1932 emigrierte er nach Norwegen. In der Nachkriegszeit entwickelte er sich zu einem führenden Vertreter der Moderne und errichtete vor allem in Kristiansand zahlreiche, vielbeachtete Bauten.

Literatur:
/1/ https://de.wikipedia.org/wiki/Thilo_Schoder
/2/ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7209560.html
/3/ http://www.hermsdorf-regional.de/stadtgeschichte/bauhaus/index.htm
Die Webseiten wurden am 29.11.2019  abgerufen.

Das Gebäude steht in Hermsdorf/Thüringen, Am Neuen Haus  2-7.

Download der Printversion: 119_Hermsdorf_K60-2019