Der Hochhausboom setzte in Deutschland erst recht spät ein. Bereits um 1900 wurden in Amerika die 100 Meter überschritten. Der Tagblatt-Turm in Stuttgart erreichte 1928 immerhin 61 Meter und schaffte trotzdem zwei Weltrekorde.
In Jena hatte man bereits 1915 vorgelegt und mit dem Bau 15 der Zeiss-Werke das erste deutsche Hochhaus errichtet. In Köln und Berlin wurden zehn Jahre später die 60 Meter überschritten. Und Stuttgart? In der aufstrebenden Industriestadt wuchsen die Baugebiete an den Talhängen nach oben. Im Stadtzentrum hielt man an der Baugrenze von 20 Metern für das oberste Nutzgeschoss fest.

Es war Carl Esser, der Verleger des einflussreichen Stuttgarter Neuen Tagblattes, dem das nicht mehr ausreichte. Er konnte nur ein relativ kleines Grundstück in der Eberhardstraße erwerben und wollte dort sowohl die Druckerei als auch die Redaktion der auflagenstarken Zeitung unterbringen. Er war selbstbewusst genug, um in die Höhe zu bauen. Es war die Zeit des Bauhauses in Dessau und mit der Planung der Weißenhof-Siedlung war auch in Stuttgart bereits die Moderne, das „Neue Bauen“, angekommen. Der Verleger beauftrage den bis dato wenig bekannten Stuttgarter Architekten Ernst Otto Oßwald mit dem Entwurf. Er gestaltete einen 56 Meter hohen Turm mit 16 Vollgeschossen und einer plattformartigen Etagenstruktur, die eine flexible Raumaufteilung ermöglichte. Ganz im Sinne der Moderne gab es außen eine schlichte Gestaltung mit zwei kubischen, ineinander gesetzten Gebäudekörpern und waagerechten Fensterbändern.
Die Stadtoberen konnten sehr wohl die Bedeutung des Baus als erstes Hochhaus der Stadt einschätzen und ließen den Entwurf zunächst durchfallen. Die Stadt beauftragte drei Architekten, in einem Ideenwettbewerb Gegenentwürfe auszuarbeiten. Keiner der Entwürfe überzeugte. Um die Diskussion schnell zu beenden, akzeptierte der Verlag dann sogar eine Einkürzung um 2 Etagen und so wurde der Bau schließlich 1927 genehmigt.
Gebaut wurde in Sichtbeton. Für die Oberfläche wurde extra ein Gemisch aus Porphyr und Rheinkies erprobt, um eine helle, warmtönige Betonfarbe zu erreichen. Der schwierige Baugrund erforderte eine aufwändige Pfahlgründung Danach ging der Bau zügig voran. Nachträglich wurden dann sogar ein weiteres Vollgeschoss und ein Aufsatz für die Aufzugstechnik genehmigt, sodass der Turm eine Gesamthöhe von 61 Metern erreichte. 1928 konnte die Redaktion in die neuen Räume einziehen und auch die dahinterliegenden Druckereigebäude waren fertiggestellt.

Der Bau behauptete sich bis in die 1950er Jahre unter den 5 höchsten Gebäuden in Deutschland. Rekorde erzielte der Turm für das erste Hochhaus im Stil des Neuen Bauens und weltweit für das erste Hochhaus in Sichtbetonbauweise. Einmalig war damals auch der bis ins 15. Obergeschoss reichende Paternoster, der bis in die 1960er Jahre in Betrieb war.
Obwohl der Bau bis heute als eines der wichtigsten Zeugnisse der Moderne gefeiert wird, fand er in Stuttgart nur wenig allgemeine Akzeptanz. Als 1943 das liberal orientierte Neue Tagblatt eingestellt wurde, gab es Diskussionen über den Abriss des Turms, genau wie in den siebziger Jahren, als die letzte Zeitungsredaktion auszog. Seit 1976 steht der Bau nun unter Denkmalschutz. Im Zuge der Renovierung übernahm die Stadt Stuttgart den Turm. Städtische Ämter und Büromieter sind die heutigen Nutzer.
Der Architekt Ernst Otto Oßwald (1880-1960) baute in Stuttgart mehrere Jugendstilgebäude. 1924 erhielt er den Planungsauftrag für das Hochhaus des Stuttgarter Neuen Tagblatts. Beeindruckt von den Planungen der Weißenhof-Siedlung realisierte er den Bau im Stil des „Neuen Bauens“. Der Turm wurde sein international beachtetes Hauptwerk.
Literatur:
/1/ https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/57a7101c-1ebf-471b-a0c0-d141bb954200/Tagblatt-Turm.html
/2/ https://de.wikipedia.org/wiki/Tagblatt-Turm
/3/ https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.tagblattturm-ein-exklusiver-betonriese.c04db117-3609-4334-82d9-cb7418251e1a.html
/4/ https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.tagblatt-turm-in-stuttgart-ein-meisterwerk-in-grau.2ec1ec49-36f5-4d21-9a3a-79be160ee8cb.html
/5/ https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Otto_Oßwald
/6/ https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/868318
Die Webseiten wurden am 05.06.2020 abgerufen.
Das Gebäude steht in Stuttgart, Eberhardstr. 61.
Printversion zum Download: 133_Tagblatt-Turm_K67-2020